Elisabeth Hartnagel – Sophie Scholls Schwester

Der Platz, der jetzt nach Hans und Sophie heißt, liegt nur wenige Meter vom Münster entfernt. Nicht weit von dem Ort, an dem einmal ihr Elternhaus gestanden hat. Noch ist der Platz eine Baustelle. Das neue Parkhaus rechts ist gerade fertig geworden, das Kunstmuseum links, gestiftet von einem örtlichen Industriellen, ist noch im Bau. Der „Hans- und Sophie-Scholl-Platz“ liegt mitten in der Innenstadt, man könnte sagen, im Herzen von Ulm.

Elisabeth Hartnagel, steht hier, sie hat weiße Haare und ein freundliches Gesicht, das immer ein wenig aussieht, als würde sie lächeln. Der Verkehr rauscht vorbei. Sie sagt: „Es ist gut, dass es diesen Platz gibt. Denn Erinnerung braucht einen Ort, an dem man sie festmachen kann“. Solche Orte gibt es inzwischen viele in Deutschland. Und jetzt gibt es ihn auch in Ulm.

Es hat lange gedauert, bis Hans und Sophie Scholl einen Platz im Herzen der Stadt bekommen haben. 63 Jahre um genau zu sein. Jene Stadt, in der sie aufgewachsen sind, in der sie als Jugendliche noch den Hakenkreuzfahnen hinterhergelaufen waren. Hier haben sie später ihren Entschluss gefasst, dass etwas getan werden müsse gegen das „die Diktatur des Bösen“.

Die Erinnerung von Elisabeth Hartnagel braucht keine Plätze und Denkmäler. Sie steht noch immer glasklar vor der 86jährigen. Die Geschichte der Weißen Rose ist Teil ihrer Familiengeschichte. Elisabeth Hartnagel ist die Schwester von Hans und Sophie Scholl. Im Prozess gegen ihre Geschwister hatte Roland Freissler, der Blutrichter des NS-Regimes gesagt: „Sie stammen aus einer Familie, in der sie keine Erziehung genossen, die sie zu anständigen Volksgenossen macht.“ Wohl der einzige wahre Satz in diesem Schauprozess.

Es ist 1932, ein Jahr vor der Machtergreifung der Nationalsozialisten, als die Scholls nach Ulm ziehen. Der Vater, Robert Scholl, war davor Bürgermeister in verschiedenen schwäbischen Gemeinden gewesen, jetzt in Ulm übernimmt er eine Steuerberaterkanzlei. Scholl war schon in der Weimarer Republik ein Liberaler und lässt sich auch nachdem die Nazis die Macht übernommen haben, nicht den Mund verbieten. „Hitler sei eine Gottesgeißel“, sagt er. Eine Aussage, die ihn Jahre später, als er von einer Angestellten denunziert wird, zum ersten Mal ins Gefängnis bringt. Während Ulm, die alte Garnisonsstadt Hitler mit Begeisterung wählt und hofft, unter den neuen Machthabern zu alter Bedeutung zurückzukehren, sieht er schon früh die Katastrophe heraufziehen. Von seinen jüdischen Klienten erfährt Robert Scholl, wie sich langsam die Faust der Machthaber um die deutschen Juden schließt. Seine Kinder Inge, Hans, Elisabeth und Sophie sind in den 30er Jahren noch begeistert in der Hitlerjugend aktiv, vor allem Hans ist ein charismatischer HJ-Führer. Vater Scholl, der Liberale, lässt seine Kinder gewähren. Elisabeth Hartnagel erinnert sich an hitzige Diskussionen mit dem Vater, der vor den Nazis warnt. „Wir dachten damals einfach, der Vater ist zu alt, der versteht das nicht mehr“, sagt sie. Nur der jüngste Bruder Werner, steht in diesen Debatten auf der Seite des Vaters.
Hans Scholl muss sich 1937 wegen „bündischer Umtriebe“ in einem Prozess verantworten. Er hat innerhalb der Hitlerjugend eine Gruppe gegründet, die sich nicht vorschreiben lässt, welche Lieder zu singen und welche Bücher zu lesen sind. Er wird verurteilt und muss über Weihnachten ins Gefängnis. Das ist wohl der Anfang von Hans Scholls Widerstand gegen das Hitler-Regime. Beim Studium in München lernen er und Sophie Gleichgesinnte kennen. Die Kommilitonen Christoph Probst und Alexander Schmorell, den Philosophie-Professor Kurt Huber. Sie bauen die Widerstandsgruppe Weiße Rose auf, entwerfen Flugblätter, vervielfältigen sie heimlich und verbreiten sie in ganz Deutschland. Die Familie daheim in Ulm ahnt nichts davon.

Elisabeth Hartnagel erinnert sich noch gut, wie sie auf Besuch in München, mit Sophie Scholl nachts im Englischen Garten spazieren geht und ihre jüngere Schwester sagt: „Jetzt müsste man die Wände beschreiben.“ Elisabeth bot ihren Bleistift an. Doch Sophie sagte: „Da braucht man schon Teerfarbe.“ Am nächsten Tag sind die Wände der Münchener Universität mit Parolen gegen das Naziregime voll geschrieben. Und Elisabeth Hartnagel hat nicht einmal geahnt, dass ihre Geschwister dahinter steckten. „Ich war ja so naiv“, sagt sie lachend.

Dann, im Februar 1943, werden Hans und Sophie Scholl im Lichthof der Münchener Universität beim Verteilen ihres letzten Flugblatts festgenommen. Nur wenige Tage später werden sie in München verurteilt und noch am gleichen Tag durch das Fallbeil hingerichtet.

Es ist ein glühend heißer Tag in Ulm, als Elisabeth Hartnagel wieder vor der Haftanstalt im Frauengraben steht, gleich hinter dem Ulmer Landgericht. Sie schaut an der schäbigen Fassade mit den vergitterten Fenstern empor. „Dass das noch immer ein Gefängnis ist, kann ich nicht begreifen“, sagt die alte Frau. Ihre Stimme ist leise und hat einen leicht schwäbischen Anklang. Ein Justiz-Beamter lehnt im Fenster und fragt, was sie hier wolle. Elisabeth Hartnagel erzählt von ihrer Haft im Winter 1943.

Mit dem Tod ihrer Geschwister war der Schrecken für die Familie Scholl noch nicht vorbei. Nur fünf Tage nach der Hinrichtung steht die Gestapo vor der Tür der Scholls und nimmt die ganze Familie in „Schutzhaft“, wie das im Jargon des Regimes heißt. Es war ein bitterkalter Februar, nie in den zwei Monaten im Gefängnis habe sie warme Füße gehabt, erzählt Elisabeth Hartnagel.

Doch auch die Sippenhaft kann die Familie nicht brechen. Vater Scholl versucht noch in der Vernehmung, die Gestapo-Beamten von der Sinnlosigkeit des Kriegs zu überzeugen. Tochter Elisabeth sagt zu ihm: „Vater, du redest Dich um Kopf und Kragen“. Am 21.5.1943 schreibt Robert Scholl in einem Kassiber, das in die Zelle der Familienmitglieder geschmuggelt wird: „Ich denke auch an das stille Grab, vor dem wir heute vor 12 Wochen standen. Oft kommt mir, wenn ich an Hans denke, das Lied in den Kopf, ‚Wir liebten uns wie Brüder. Der Tod hat uns getrennt’.“
Elisabeth Hartnagel wird als erste entlassen, weil sie in der Haft krank geworden ist. Sie wohnt allein im Ulmer Elternhaus und muss erleben, wie in der Stadt ein Kesseltreiben gegen die Scholls beginnt. Im „Ulmer Sturm“ erscheint ein Artikel mit der Schlagzeile: „Wie lange noch Scholl?“ Nachbarn wechseln die Straßenseite. Einmal klingelt es an der Tür, ein Mann steht davor und sagt: „Ich wollte nur sehen, wie jemand aussieht, dessen Geschwister geköpft worden sind.“

„Man hat sich so vogelfrei gefühlt“, sagt Elisabeth Hartnagel. „Aber die Anfeindungen haben uns auch stolz gemacht“. Die Familie zieht für den Rest des Krieges auf einen Bauernhof in den Schwarzwald. Robert Scholl muss ist fast bis zum Ende des Krieges in Haft. Zuletzt im KZ Kislau.
Das ersehnte Kriegsende bringt, wofür die Mitglieder der Weiße Rose mit ihrem Leben bezahlt haben: Demokratie und Meinungsfreiheit. Robert Scholl soll die neue Ordnung mitgestalten. Er wird von den Alliierten als Ulmer Oberbürgermeister eingesetzt. Doch im Parteienstreit findet sich der überzeugte Demokrat nur schwer zurecht. Robert Scholl setzt sich für eine moderate Entnazifizierung ein, weil er für eine funktionierende Verwaltung auch belastete Beamte braucht. Damit stößt er SPD und Kommunisten vor den Kopf, die das nicht erwartet hätten, vom Vater der berühmten Widerstandskämpfer. Am Ende steht er ohne Unterstützung im Gemeinderat da. 1948, bei den ersten freien Wahlen, verliert er sein Amt und zieht enttäuscht nach München.

Doch die Scholls prägen das öffentliche Leben Ulms in der Nachkriegszeit. Die Präsenz der Kinder verhindert, dass das Vergangene in Vergessenheit gerät. Elisabeths Mann, der Richter Fritz Hartnagel, sitzt lange für die SPD im Stadtrat. Ihre ältere Schwester Inge Aicher-Scholl gründet gleich nach dem Krieg die Volkshochschule Ulm, die sich weniger als Institut für Koch- und Strick-Kurse ersteht, sondern als Stätte der demokratischen Bildung. Mit Vorträgen von Walter Jens und Werner Heisenberg erwirbt sich die „vh“ einen Ruf weit über die Stadtgrenzen hinaus.

Aber mit dem Gedenken an Hans und Sophie Scholl tun sich die Ulmer schwer. 1972, während schon in ganz Deutschland unzählige Geschwister-Scholl-Schulen eingeweiht werden, gibt es in Ulm eine Diskussion, ob dies der richtige Name für das ehemalige Mädchen-Gymnasium ist. Die Schüler finden Ja, die Lehrer, viele in der gleichen Generation wie Hans und Sophie, sind mehrheitlich dagegen. Es kursieren Unterschriftenlisten, bis der Bürgermeister ein Machtwort spricht und die Benennung anordnet.
„Viele Ulmer dieser Generation sind noch auf die Scholls als HJ-Führer abgefahren“, erklärt der Ulmer Historiker Sylvester Lechner die Stimmung in der Ulmer Kriegsgeneration. Und Elisabeth Hartnagel vermutet: „Sie hatten meinen Geschwistern nicht verziehen, dass sie sie erst für die Hitlerjugend begeistert haben, und dann in den Widerstand gingen“.

Ulm weiß nicht so recht, wie es mit den berühmten Widerstandskämpfern umgehen soll, die doch alle in ihrer Generation Lügen straften, die behaupteten, man habe von den Nazi-Verbrechen nichts geahnt.
Heute, fast eine Generation später, ist manches was in Ulm einmal Verdrängung war, übergangslos in oft unreflektierte Verehrung umgeschlagen. Da heißt eine der Ulmer Straßenbahnen „Sophie Scholl“, als wäre sie eine Heimatdichterin. Und ein Mediziner hat die Eingangshalle zu seiner Praxis zur Gedenkstätte ausgebaut, nachdem er entdeckt hatte, dass die Familie Scholl vor dem Krieg ein paar Jahre in dem Haus gewohnt hatte. Jetzt funkeln dort Plexiglastafeln, mit Fotos von Hans und Sophie, beleuchtet von modisch-blauen Lichtern. In der Nacht sehe das aus wie eine „Flughafenlandebahn“, sagt der Arzt stolz.

Elisabeth Hartnagel kann damit wenig anfangen. Zu pompös ist ihr die Arztpraxis mit angeschlossener Gedenkstätte, die sich jetzt „Geschwister-Scholl-Haus“ nennt. Als der Bau einen Architekturpreis bekommt, ist sie eingeladen. Aber Elisabeth Hartnagel trifft sich an diesem Tag lieber mit Konstantin Wecker, dem Liedermacher, der schon vor Jahren über Hans und Sophie geschrieben hat: Jetzt haben sie Euch zur Legende gemacht / und in Unwirklichkeiten versponnen / dann ist einen um den Vergleich gebracht / auch das schlechte Gewissen genommen.“

Auf dem Ulmer Marktplatz, nicht weit von dem Platz, der jetzt nach Hans und Sophie Scholl heißt, stehen drei unauffällige Metallstehlen. Elisabeth Hartnagels Schwager, der große Designer Ottl Aicher, hat sie hier angebracht. Unter einer stilisierten Rose steht der Satz aus einem der letzen Flugblätter: „Wir schweigen nicht, wir sind Euer böses Gewissen. Die Weiße Rose lässt Euch keine Ruhe“