Peter Sloterdijk – „Kosmopolitisch bin ich selbst“

„Kosmopolitisch bin ich selbst“

Der Philosoph Peter Sloterdijk ist in Karlsruhe geboren, war in der Welt und ist wieder zurückgekehrt. Ein Gespräch über seine Geburtsstadt.

Herr Sloterdijk, Sie sind in Karlsruhe geboren, waren in München und Hamburg, jahrelang in Indien und sind dann vor 12 Jahren wieder nach Karlsruhe gekommen. Welche Bedeutung hatte diese Rückkehr für Sie?

Es ist eigentlich nicht normal zurück zu kehren. Man kennt das eigentlich nur aus der Odyssee aus der Erzählung von Magellan und seinen Schiffen. Weltumsegler sollten – wenn es geht – wieder in den Heimathafen zurückkehren. Oder Männer die vor Troja gekämpft haben. Ich kam mir schon wie ein ironischerweise heimgekehrter Odysseus vor, als ich den akademischen Ruf nach Karlsruhe  bekommen habe. Man ist ja nicht vierzig Jahre weg gewesen um dann am Ende doch wieder auf den eigenen Geburtsort herein zu fallen.

Hatten Sie noch Wurzeln hier?

Ich war fünf oder sechs als wir nach München gegangen sind. Das ist ein Alter in dem man sich zum Patriotismus nicht eignet. Kinder sind nicht an Orten zu Hause sondern in Beziehungen, zu ihren Eltern. Die äußeren Bedingungen liefern dazu nur das Dekor. Meine wenigen Versuche einer Spurensuche in Karlsruhe waren völlig vergebens. Ich hab die Adresse unserer elterlichen Wohnung, die wir in den 50er Jahren bewohnt haben, aufgesucht, und kam zu dem Schluss, dass nichts zu sehen ist, nichts zu lernen und nichts zu fühlen. Ich kehre nirgendwo hin zurück. Da ist nichts, wohin ich zurückkehren könnte. Biografische Kreisläufe dieses Typs bedeuten eigentlich nicht viel, wenn man verstanden hat, dass man eigentlich nie an seinen Ursprung zurückkehrt.

Haben diese Fragen nach Rückkehr und Heimat eine Rolle gespielt bei der Entscheidung als Professor nach Karlsruhe zu gehen?

Nein. Es hat eine Rolle gespielt, dass ich mich bei einem Besuch hier, als die Sache spruchreif wurde, dass ich mich wohl gefühlt habe. Diese rheinländischen Stimmungen, das war etwas, woran ich anknüpfen konnte. Ich habe damals auch geglaubt, dass ich mit den Menschen hier gut zu recht komme. Das hat sich auch bewahrheitet, auch wenn ich an den Karlsruhern vieles vermisse, was ich an den Münchnern im Übermaß gefunden habe. Eigensinnige, kommunikative Köpfe, millieubildende Energie, das hat es in München in vielfältigen Formen gegeben. Hier hab ich das nie erlebt. Tatsache ist, dass ich Karlsruhe nicht als ein soziales Kraftfeld erlebe. Vielleicht genügen aber auch 12 oder 13 Jahre nicht um die ganze Schönheit der Karlsruher Geselligkeit zu erschließen.
Karlsruher Geselligkeit, können Sie die beschreiben?
Also als Völkerkundler würde ich behaupten, dass es so was geben muss. Weil sie selbst bei wilden Stämmen auftritt. Ich kenne keinen Grund, warum Karlsruhe eine Ausnahme machen sollte. Es gibt hier aber andere, merkwürdige Feldkräfte die in meinen Augen neutralisierend wirken. Überall sonst gibt es Verrücktheitsgruppen, farbige Comunities, Attraktoren. Ich spüre hier nichts. Ich nehme in Karlsruhe keine Jugendszene wahr.

Wo sind denn Ihre Studenten der Hochschule für Gestaltung? Die müssten ja auch solch eine Stadt prägen.

Also ich würde sagen die Studenten der HfG, diese 400 Leute, haben in meiner Wahrnehmung mehr Strahlkraft, als die restliche Studentenschaft zusammen genommen. Was die institutionelle Hochschullandschaft angeht, haben wir ein ungeheuer interessantes wissenschaftliches Biotop. Wir haben Fakultät für Chemie, wir haben eine Musikhochschule mit Weltrang, die HfG an der ich selber lehre und wir haben das ZKM, das ein eigensinniges starkes Kraftfeld bildet. Aber davon redet man mehr in New York und Korea und Paris und Berlin als in Karlsruhe.

Welche Kräfte sind das die das Junge, Temperamentvolle in Karlsruhe neutralisieren?

Das weiß ich eben nicht. Ich glaube es gibt bei den Karlsruhern so etwas wie ein pathologisches Familiengeheimnis. So ein Gebot: „Du sollst nicht merken!“ Es ist ja bei Psychoanalytikern gut beschrieben, dass Eltern, die ein pathogenes Geheimnis mit sich tragen, an ihre Kinder den Auftrag weitergeben, ihr Sensorium abzuschalten: „Du sollst nicht merken“. Mir kommt es so vor als, hatte Karlsruhe eine menge solcher Du-sollst-nicht-merken-Kinder hervorgebracht.

Was soll das für ein düsteres Familiengeheimnis sein, das die Karlsruher mit sich herumtragen?

Es gehört zur Gründungslegende der Stadt, dass der Landesvater, bevor er zu einem vorbildlichen Herrscher wurde ein absolutistischer Despot war und in dieser Eigenschaft die schlechten Gewohnheiten der aristokratischen liberalen Erotik an den Tag gelegt hat. Er soll sich ja in dem Vorläuferbau des Karlsruher Schlosses an die 50 Geliebte gehalten haben. Der Name Karlsruhe drückt aus, dass er hier etwas gesucht hat, was es in seinem Stammschloss Durlach nicht gab. Es nennt sich Karlsruhe, aber das psychoanalytisch geschulte Ohr nimmt das als Deckwort dafür, dass hier keine Ruhe war, sondern ein Ort der Ausschweifung. Ein Ort an dem ein Landesfürst sein High Life organisiert hat. Aber man hat nicht darüber gesprochen. Das hat sich in eine besondere Form von Karlsruher Diskretion bis heute übertragen.

Sexuelle Verklemmtheit, verdrängte Konflikte mit dem Vater. Das führt irgendwann zu schweren Depressionen. Gehört Karlsruhe auf die Couch?

Naja, immerhin hat die Stadt bei ihrer Gründung noch das Beste empfangen, was das späte 18. Jahrhundert zu bieten hatte: Aufklärung von Oben. Die Wahrheit, die Rationalität galt unter den Fürsten damals als eine viel zu wichtige Angelegenheit, um sie dem Volk nach Gutdünken zu überlassen. Sie wurde ihm gewährt. Demokratie von oben, Stadtplanung von Oben, Toleranz von oben, das ist der Karlsruher Geist. Aristokratische Aufklärung, die dann in bürgerliche übergeht hinterlässt halt einen faden Eindruck.

Umso erstaunlicher ist es, dass es hier so spannende Einrichtungen wie das ZKM, die Musikhochschule oder die Hochschule Für Gestaltung gibt, deren Ruf weit über die Stadt und das Land hinausreichen. Wie ist das möglich?

Also der Gründer der HfG, Heinrich Klotz, war sicher auch ein moderner absolutistischer Fürst. Die Tatsache, dass hier noch gegründet werden konnte, war eben in der jungen Stadtgeschichte angelegt. Wenn sie sich die Gebäude anschauen, in denen die HfG und das ZKM untergebracht sind, dann sind das ganz große Beispiele für moderne Industrie-Architektur. Dieser Hallenbau, das ist ja inzwischen ein weltweit wieder erkennbares Wahrzeichen. Diese zehn Lichthöfe sind inzwischen symbolstärker als die Pyramide, das Schloss und alles zusammen. Ganz abgesehen davon, dass wir gerne stolz darauf hinweisen, dass sich das Gebäude, vom Raumvolumen mit dem Centre Pompidou allemal aufnimmt. Von dem her gesehen, was sich darin abspielt, ist es dem sogar überlegen. Schon allein, weil hier Museen und Forschungsstätten gemeinsam zu Hause ist.

Warum identifizieren sie sich mit solch bedeutenden Einrichtungen so wenig?

Karlsruhe ist eine Stadt ohne wirkliche Bedeutung. Wirkliche kosmopolitische Aura. Wirkliches Auftreten in der Welt gibt es nur in Städten die eine Oberschicht haben. Die gibt es in Karlsruhe nicht. Wir haben eine bedeutende juristische Intelligenzia, wir haben kulturell offene Großhändler, ein Großbeamtentum. Aber der Kreis derer, die als Träger einer Faszination durch sich selbst, die eine große Stadt erzeugen könnte, ist klein.

Fühlen sie sich da alleine, als Intellektueller, der ja in der Öffentlichkeit präsent ist?

Nein. Für mich ist es hier angenehm unter dem Aspekt der Lebbarkeit. Ich brauche Ruhe und Konzentration, Diskretion. Kosmopolitisch und ungemütlich bin ich selber. Ich brauche um mich herum keine weiteren schöpferischen Ungemütlichkeiten, wie sie beispielsweise Berlin zu bieten hätte.

Sie selbst sehen sich ja als Erforscher der Welt betrachten sie aber lieber aus der provinziellen Entfernung. Ist das kein Widerspruch?

Ich glaube, dass es heute nicht mehr diesen Unterschied zwischen Provinz und Metropole gibt. Heute kann man in einer Mittelstadt oder auf einem Dorf genauso viele Erfahrungen über die gegenwärtige Welt machen, wie wenn man in deren Zentrum wohnt. Ich kenne viele New Yorker die ein Brett vor dem Kopf haben, eigentlich New Yorker Provinzler sind. Und es gibt viele Karlsruher Provinzler, die Weltmenschen sind. Dieser Unterschied ist nicht so bedeutend. Philosophie lebt sehr stark aus dem eigenen Feuer, sie braucht natürlich auch Anregungen. Aber das ist weniger die Hauptstadt als die Werkstadt der anderen, also der Austausch unter Künstlern Philosophen und Schriftstellern

Ist Karlsruhe also ein ideales Biotop für den Denker?

Ja ein wunderbares Biotop, schon was die Einbettung in die Natur und die Kulturlandschaft angeht. Die Rheinlandschaft die ich als passionierter Radfahrer sehr gut kenne, ist singulär. Die vielen Nebenarme des Altrheins, diese toten Gewässer und naturbelassenen Au-Urwälder. Die Kiesbetten die ins Altertum zurückverweisen, die vielen Baggerseen, das alles ist sehr reizvoll. Es ist eigentlich so eine kleine Riviera, die sich da den Rhein hinunterzieht, mit Schiffen Zeltplätzen und Feriendörfern. Der Sommer ist hier ein richtiger Sommer, da muss man nicht wegfahren. Es ist eigentlich ein kleinitalienisches Biotop hier. Aber man sieht es nur wenn man mit dem Fahrrad hindurchfährt. Da kann man sehr glücklich sein.

Interview: Benno Stieber, Peter Mayer