Karlsruhe – Hier ist’s Recht

Lauschangriff, Erbschaftssteuer oder Neuwahlen, immer haben die Bundesverfassungsrichter das letzte Wort. Ein Blick hinter die Kulissen der Machtzentrale fern der Hauptstadt.

Stephan Stadtler ist ein geduldiger Mann. Minutenlang hört er der Stimme, die aus dem Telefonhörer bellt, schweigend zu. Sein Blick schweift ein bisschen verzweifelt aus dem Fenster. Draußen im Schlossgarten toben Eichhörnchen über den Rasen. Dann sagt Stadtler ruhig: „Seien sie mir nicht bös’, aber ich kann mit ihnen nicht über das Deutsche Reich diskutieren“. Wieder ein Wortschwall. Stadtler, Rechtspfleger des 2. Senats am Bundesverfassungsgericht und, glaubt man dem Schild an seiner Tür, „glücklichster Bassist der Welt“, angelt nach einer Zigarette: „Ja, da gibt es eine Entscheidung von 1973“. Ein scharfer Blick auf die grauen Buchbände in der Schrankwand gegenüber: „Band 36, Seite 1 fortfolgende.“ Dann klemmt Stadtler den Hörer zwischen Ohr und Schulter und zündet die Zigarette an. „Wenn sie sich nicht damit zufrieden geben, müssen sie Verfassungsbeschwerde einlegen … ja schriftlich. Unsere Adresse haben Sie? Schlossbezirk 3, 76131 Karlsruhe.“

Schlossbezirk 3, das ist die Adresse der letzten Instanz in dieser Republik. Sitz des höchsten deutschen Gerichts, Hüter der Verfassung, Orakel der Berliner Politik und manchmal – Stephan Stadtler kann lange davon erzählen – auch nur der Bundeskummerkasten. Wenn die Richter in ihren kardinalsroten Roben Entscheidungen verkünden, schaut die Republik nach Karlsruhe. Meinungsfreiheit, Gleichberechtigung von Mann und Frau, Unverletzlichkeit der Wohnung, die Entscheidungen füllen inzwischen 100 Buchbände. Und immer geht es ums Grundsätzliche, die Kronjuwelen der demokratischen Grundordnung gewissermaßen. Es sind Entscheidungen, die das Land verändern. Meist zu seinem Vorteil und nicht immer zur Freude der Mächtigen.

Das höchste Gericht Deutschlands liegt gleich links neben dem Karlsruher Barock-Schloss, vier Quader aus Glas, Granit und Holz idyllisch eingebettet zwischen Botanischem Garten und Schlosspark. Im Rechten, dem Richtertrakt, liegen die Büros der 16 Richter, wie in einem zweistöckigen Kreuzgang angeordnet. Unten der erste Senat und oben der zweite. Im rechten Quader kann man durch die Glasfront den mächtigen Pinienholz-Adler erkennen, der über der Richterbank thront. Keine Bannmeile schirmt das Gebäude ab. Nichts erinnert an einen dieser alten Justizpaläste, die den Bürger erst einmal einschüchtern sollen, bevor er vielleicht zu seinem Recht kommt.

Ein Bürgergericht hatten die Väter der Verfassung im Sinn, als sie bei ihren Beratungen 1948 in Herrenchiemsee das Grundgesetz der jungen Republik formulierten. Es sollte die Freiheitsrechte der Bürger auch gegen die Regierung wahren, im schlimmsten Fall gegen Staatsterror. 1951 öffnete das Bundesverfassungsgericht seine Pforten. Die einzige Schreibmaschine war bei den Kollegen vom Bundesgerichtshof geliehen. Die hatten sich schon im Jahr davor in Karlsruhe eingerichtet.

Nicht selten haben die Regierenden seitdem die „Macht der Acht“ verflucht. Gleich bei einer der ersten großen Entscheidungen maulte Kanzler Adenauer: „So ham wa uns dat nich vorjestellt“. Und aus dem Kabinett von Willy Brandt polterte es zwanzig Jahre später, man werde sich von den „acht Arschlöchern in Karlsruhe“ nicht die Ostpolitik kaputt machen lassen. Die Verfassungsrichter ignorierten diese Unflätigkeiten, nahmen sie im Zweifel als Beweis für ihre Unabhängigkeit.

In den gläsernen Gängen des Gerichts herrscht konzentrierte Ruhe. Nur manchmal schleicht ein Mitarbeiter über den Flur oder ein Bote schiebt einen Aktenwagen von Büro zu Büro, lädt Ordner auf und lädt sie eine Tür weiter wieder ab. Heute macht das Edgar Dannenmaier. Er ist seit dreißig Jahren am Bundesverfassungsgericht, dreimal länger als die dienstältesten Richter. Wenn er nicht als Bote aushilft, ist er in der Kopierstelle dafür zuständig, dass die Urteile und Entwürfe möglichst schnell vervielfältigt werden. „Ich hab die großen Sachen gemacht“, sagt Dannenmaier mit Stolz: Paragraph 218, Volkszählung und das NPD-Verbots­verfahren. Alle Urteile hat er kopiert, geschichtet und sauber geheftet.

Auch in den 70ern, als die Söhne des Entführten Hans-Martin Schleyer, die Bundesregierung per Verfassungsbeschwerde dazu zwingen wollten, ihren Vater gegen RAF-Terroristen auszutauschen, saß Dannenmaier in der Druckerei im Untergeschoss. Bis morgens um fünf musste er warten. Erst dann hatten die Richter ihre schwere Entscheidung gefällt und Dannenmaier konnte das Urteil durch das Hektographie-Gerät jagen.

Dannenmaier rollt den Aktenberg in Richtung Richtertrakt. Viele Fälle werden im so genannten Kammerverfahren entschieden. Man kann das wörtlich nehmen. Der Richter muss sein Büro nicht verlassen, um zu entscheiden. Stattdessen wandert die Akte von Büro zu Büro.

„Ja, das Kammerzeug knubbelt sich“ sagt Renate Jaeger, die von Dannenmaiers Lieferung heute verschont bleibt. Sie ist auch noch gut versorgt. Vor ihrem Schreibtisch türmen sich links und rechts  fast Meterhoch zwei Stapel Akten. „Das sind nur zwei Verfahren“, sagt sie. Zwischen den Papiertürmen sitzt ein brauner Plüschaffe, der pfeift, immer wenn ihn ein Sonnenstrahl trifft.

Renate Jaeger ist seit zehn Jahren Verfassungsrichterin in Karlsruhe. Ende des Monats fängt sie mit 64 Jahren noch einmal einen neuen Job an. Dann wird sie einige Kilometer rheinaufwärts am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg urteilen. Die zwei Aktenstapel müssen bis dahin noch durchgearbeitet werden.

„Ich kann nicht schnell laufen, dafür aber schnell lesen“, sagt Renate Jaeger und ihr resoluter Blick wird kurz von einem mädchenhaften Lachen verscheucht. Diese Fähigkeit hat ihr in Karlsruhe geholfen, sich durch die Aktenberge zu fressen. Sie hat das mal durchgerechnet. Wenn man von 250 Arbeitstagen eines Verfassungs­richters im Jahr die Beratungstage und die öffentlichen Verhandlungen abzieht, bleiben 180 Tage, um Akten zu studieren und Urteile zu schreiben. Da bleibt keine Zeit zu vertrödeln und das ist ohnehin nicht ihre Art. Der Plüschaffe zwischen den Aktentürmen pfeift jetzt im Minutentakt.

Deshalb zählte Renate Jaeger auch zu der Minderheit von Richtern, die 2001 dafür gestimmt hatten, dass das Verfassungsgericht nach Berlin zieht, wo auch Regierung, Bundestag und Bundesrat ihren Sitz haben. Aus Gründen der Effektivität. Die Wege wären kürzer gewesen, sagt sie. Aber womöglich auch die Pfade der politischen Einflussnahme durch die Politik, fürchtete die Mehrheit ihrer Kollegen. Sie wollten in Karlsruhe bleiben, auch wenn die Hauptstadt fast eine Tagesreise weit weg ist. Vielleicht hat es ja seinen Charme im dezentral organisierten Deutschland, dass sich Minister und Landesherren eigens in die Provinz bewegen müssen, um ihr Urteil abzuholen.

„Es ist ein klösterliches Dasein hier“, sagt Udo Steiner und ein bisschen strahlt der Franke das auch aus. „Wir sitzen in unseren Zellen und arbeiten. Mit den Kollegen trifft man sich regelmäßig zum gemeinsamen Gebet.“ Seit acht Jahren ist Steiner als Verfassungsrichter in Karlsruhe, davor war er Professor für Staatsrecht in Regensburg. Seine Zelle ist ein geräumiges Büro mit Blick in den Park. Hinter dem Schreibtisch hängen Bilder von der Regensburger Altstadt und von seinen Enkeln. Auch bei Steiner stapeln sich die Akten. Er ist für Sozialpolitik zuständig, ein Ressort mit chronischer Arbeitsüberlastung. Entschädigung für Enteignungen in Ostdeutschland, Beschwerden zu Pflegeversicherung und Hartz IV, aber auch der Antrag eines Sozialhilfeempfängers auf kostenlose Physik-Nachhilfestunden für seinen Sohn. All das geht über Udo Steiners Schreibtisch. Trotzdem macht er nicht den Eindruck, dass ihn etwas aus der Ruhe bringen könnte. Zum Kaffee reicht die Sekretärin Schokomuffins.

Was Steiner vom gemeinsamen Gebet zu berichten hat, klingt wenig gemütlich. Alle zwei Wochen treffen sich die Richter in einem spartanisch eingerichteten Eckzimmer, in dem acht Sessel um einen Tisch stehen. Jeder Richter hat seinen festen Platz, links vorne, bei der Tür der Präsident. In den Regalen stehen die hundert grauen Bände mit den Entscheidungen des Verfassungsgerichts, das Grundgesetz und ein paar andere Gesetzestexte. Der cremefarbene Raum strahlt eine nüchterne Arbeitsathmosphäre aus.

Hier prallen dann die acht Meinungen von Spitzenjuristen aufeinander. Harte Auseinandersetzungen seien das manchmal, sagt Steiner, und er weiß, was das heißt. Schließlich geht der 65-jährige auch als kopfballstarker Stürmer der Fußball-Mannschaft des Bundesverfassungsgerichts keinem Zweikampf aus dem Weg. In strittigen Fällen, damals beim Abtreibungsparagraphen 218 zum Beispiel, sei um jeden Satz gerungen worden. Von „Diskussionen bis an die Grenzen des zivilen Umgangs – und darüber hinaus“ ist zu hören. Mehr dringt nicht an die Öffentlichkeit, die Beratungen der Richter sind geheim.

Ist die Richterberatung das Gebet, dann ist die öffentliche Verhandlung das Hochamt des Verfassungsgerichts – und Karin Hörner ist so etwas wie die Zeremonienmeisterin. An den Verhandlungstagen wuselt es in den Gängen des Gerichts. Vor dem Gebäude haben Übertragungswagen der Fernsehsender ihre Satellitenschüsseln ausgerichtet und kurz vor der Verhandlung fahren dann schwarze Politikerlimousinen vor.

Karin Hörner trägt an diesen Tagen ihre blaue Uniformjacke, die ein wenig nach Feuerwehr aussieht, dazu eine weiße Bluse und einen schwarzen Rock. So steht es in den Kleider-Vorschriften. Schon früh am Morgen hat die Amtsmeisterin die roten Roben im Beratungszimmer hinter dem Verhandlungssaal bereitgelegt. Kurz vor Verhandlungsbeginn wird sie den Richtern hinein helfen und  kontrollieren, dass auch das rote Barett richtig sitzt.

Wenn sich dann gegen zehn im Verhandlungssaal die Kameras um Kläger und Beklagte drängeln, steht Karin Hörner am Eingang und sorgt dafür, dass es einigermaßen gesittet zugeht. Bei der schlanken Frau mit dem strengen Kurzhaarschnitt reicht da oft nur ein Blick. „Sie sind die Frau mit der größten Autorität im Saal“, hat Otto Schily neulich zu ihr gesagt. Und der frühere Innenminister ist zweifellos ein Experte in Autoritätsfragen.

Später stehen sich vor der Richterbank Kläger und Beklagter gegenüber, häufig ist der eine ein Normalbürger, der andere ein Berufspolitiker. „Die Politiker müssen hier die Hosen runter lassen“, sagt Karl-Dieter Möller, der seit Jahren für die ARD von den Verhandlungen berichtet und hier irgendwie zum Inventar gehört. Die Richter fragen kritisch. Und selbst jemand wie Gerhard Schröder musste sich schon vom Vorsitzenden ermahnen lassen, sich mit seinem Vortrag nicht zum Publikum, sondern zum Gericht zu wenden, weil das hier keine Parteiversammlung sei. Die öffentlichen Verhandlungen sind „Politik ohne Sprechblasen“, schwärmt der Fernsehmann Möller.

Doch bevor all das passieren kann, hat Amtsmeisterin Karin Hörner den Auftritt, vor dem sie immer ein bisschen Lampenfieber hat. Kurz nach zehn geht sie mit festem Schritt hinter der Richterbank vorbei, stellt sich links neben die Flügeltür und ruft mit strenger Stimme und leichtem alemannischen Singsang: „Bitte die Plätze einnehmen.“ Wenn der Saal zur Ruhe gekommen ist, öffnet sie eine Tür und verkündet: „Das Bundesverfassungsgericht.“